24.04.2009 Ein neuer, gigantischer Stahl-Sarg für Tschernobyl
Der Super-Gau: Vor 23 Jahren explodierte der Reaktor 4 von Tschernobyl. Nun benötigt der kontaminierte Block dringend eine neue Hülle. Experten vergleichen das Projekt mit dem US-Mondprogramm: Denn niemand hat bisher eine so gewaltige Konstruktion in einem radioaktiv verseuchten Gebiet errichtet.
Am 26. April 1986, um 1.24 Uhr morgens, explodierte der vierte Reaktor des ukrainischen Kernkraftwerks Tschernobyl. Die größte Katastrophe in der Geschichte der zivilen Kernenergie begann. Mehrere Dampfexplosionen zerstörten das Reaktorgebäude, der Grafitblock, der bei Reaktoren wie in Tschernobyl die Brennstäbe aufnimmt, geriet in Brand. Die eilig herbeigerufenen Einsatztruppen versuchten den Reaktorbrand mit Tausenden von Tonnen Blei, Bor und Beton zu ersticken und das Gebäude notdürftig abzudichten. Innerhalb von wenigen Wochen wurde eine Zone 30 Kilometern um das Unglückskraftwerk geräumt, die Bewohner von zahlreichen Dörfern und der Stadt Pripjat mussten sie Hals über Kopf verlassen. Seitdem ist das Gebiet Sperrzone oder, wie es auch heißt, „strahlenökologischer Naturpark“.
Bis Dezember 2000 wurde in dieser Sperrzone weiterhin Strom produziert, denn neben dem Unglücksreaktor standen weitere drei baugleiche, die auch nach 1986 den Strombedarf der Ukraine zu großen Teilen deckten. Die Arbeiter fuhren seit der Katastrophe eine dreiviertel Stunde aus der neu gegründeten Stadt Slawutitsch an ihren Arbeitsplatz. Ihre Heimat haben die Evakuierten bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr wiedergesehen. In jüngster Zeit wird wieder über die wirtschaftliche Nutzung der 30-Kilometer-Zone nachgedacht. Doch konkrete Pläne entwickeln sich nur schleppend. Immerhin ist etwas Forstwirtschaft möglich, das Holz wird sogar ausgeführt, streng radiologisch kontrolliert, versteht sich.
Nahezu unverändert befindet sich im Zentrum der Sperrzone weiterhin die strahlende Erblast der Reaktorexplosion. Fast ein Vierteljahrhundert nach diesem Fanal ist der provisorische Betonsarg, der damals hastig auf den brennenden Reaktor gesetzt wurde, immerhin stabilisiert und gegen Regen abgedichtet worden. Daneben warten die drei Schwesteranlagen darauf, abgerissen zu werden.
Inzwischen gewinnt der Rückbau des Kraftwerks Konturen – allerdings langsam. Beim Katastrophenblock4 ist eine wichtige Etappe abgeschlossen. „Im vergangenen Jahr haben wir die Stabilisierung des existierenden Sarkophags endlich beendet“, sagt Vince Novak, Direktor für nukleare Sicherheit bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London, die die Finanzierung für die Sicherung des havarierten Reaktorblocks steuert. Zwei Metalltürme stützen jetzt die gefährlich geneigte Westwand, von der immer befürchtet wurde, dass sie einstürzt. Auch der marode Rest der Konstruktion wurde stabilisiert und das Dach so weit abgedichtet, dass Regenwasser nicht mehr eindringen kann. Jetzt wartet der Block nur noch auf den sogenannten sicheren Einschluss, eine riesige Halle, die über das gesamte Gebäude geschoben wird und es von der Außenwelt isoliert. Noch in diesem Jahr soll genau feststehen, wie die Schutzhülle aussehen und vor allem wie sie mit den existierenden Gebäuden verbunden werden soll.
Klar ist, dass sie ein riesiger Hangar aus Stahl sein wird, dessen Dach über 100 Meter hoch sein wird. Diese Halle soll langsam über den Betonklotz geschoben werden, der früher einmal Reaktorblock4 war. Hauptzweck ist der Schutz der Umwelt. Falls das Provisorium aus Beton und Stahl dann doch zusammenbrechen sollte, kann der strahlende Staub nicht nach außen gelangen. In dem Hangar werden auch Kräne installiert sein, „damit man“, sagt Lutz Küchler, „die schweren Elemente wie Dachkonstruktion oder Träger abheben kann“. Pläne, was endgültig mit dem Havaristen geschehen soll, gibt es derzeit nicht. Die westlichen Geberländer sehen ihre Pflicht mit dem Bau des Hangars als erfüllt an. „Der Betrieb des Einschlusses und der Umgang mit den stark und lange strahlenden Resten stehen in der Verantwortung des Kernkraftwerks und der Ukraine“, sagt EBRD-Manager Novak.
Neue Konstruktion soll rund 100 oder 200 Jahre lang halten
Mit dem Hangar sollte erst einmal Zeit verschafft werden, um das Schicksal der strahlenden Trümmer zu diskutieren. Rund 100 oder 200 Jahre, so die Erwartung, soll der Schutzbau halten. „Man könnte das Vorhaben in etwa mit dem amerikanischen Mondprogramm vergleichen, weil noch niemand je eine so gewaltige Konstruktion in einem radioaktiv kontaminierten Gebiet errichtet hat“, sagt Wolodymyr Berkowsky von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien. Die Experten sind zuversichtlich, dass die Schutzhülle jetzt zügig Gestalt annehmen wird. „Der sichere Einschluss des Reaktorblocks4 soll 2012 fertig sein“, sagt EBRD-Experte Novak, „wir sind genau im Zeitplan.“ Tatsächlich haben parallel zu den letzten Konstruktionsplanungen die Vorbereitungen auf dem Gelände begonnen. „Man hat alle störenden Strukturen, Konstruktionsteile oder Transformatoren, auf dem Gelände entfernt“, sagt Lutz Küchler, Tschernobyl-Experte bei der Kölner Gesellschaft für Anlagen und Reaktorsicherheit. Der Grund ist also bereitet, um die gewaltigen Fundamente für die Halle zu legen. Das soll dann auch umgehend geschehen, sobald die Detailplanung abgeschlossen ist.
Weniger deutlich zeichnet sich das Schicksal der drei abgeschalteten Schwesterblöcke ab. Sie lieferten bis zur Jahrtausendwende noch einen großen Teil des ukrainischen Stroms, doch seit der letzte Block im Jahr 2000 vom Netz ging, wird im Kraftwerk nicht mehr produziert, sondern für den Rückbau konserviert. Fortschritte hat es in den fast neun Jahren seither kaum gegeben.
Radioaktive Abfälle werden noch in Silos auf dem Gelände gelagert
Immerhin wurde nun zum Jahrestag des Reaktorunfalls eine Anlage für die Bearbeitung, Verpackung und Lagerung mittelaktiver Abfälle aus den drei Reaktoren in Betrieb genommen. Diese Anlage soll auch möglichen hoch radioaktiven Abfall aus der Reaktorexplosion aussortieren, der die schwächer strahlenden Materialien verunreinigt. Diese kommen dann in ein oberflächennahes Lager, sicher verwahrt für die kommenden 300 Jahre: „Die Technologie, die man dort einsetzen wird, ist nach dem Stand der Technik ausgelegt“, sagt GRS-Mitarbeiter Lutz Küchler. Die deutschen Reaktorexperten beraten die ukrainische Regierung beim Rückbau der drei abgeschalteten Reaktoren. Mit der Konditionierungs- und Lagereinrichtung können viele Abfälle aus den Reaktoren endgültig verstaut werden. Bislang wurden sie provisorisch in Silos auf dem Kraftwerksgelände gelagert.
Bei der Behandlung der stark strahlenden Brennelemente aus den drei Reaktorblöcken hat es dagegen einen Rückschlag gegeben. Die von einer französischen Firma geplante und weitgehend fertiggestellte Anlage kommt mit den Brennelementen nicht zurecht, weil die viel zu nass sind. Die in drei Meter langen Stahlröhren gestapelten Brennstofftabletten standen zum Abkühlen jahrelang in großen Wasserbecken. Viele Stahlröhren waren allerdings durch den Brennbetrieb undicht, und Wasser drang in die Elemente ein. „Dieses Wasser muss entfernt werden, weil es die Langzeitsicherheit unter trockenen Lagerungsbedingungen erheblich beeinflusst“, sagt Küchler.
Die Brennelemente strahlen immerhin für Hunderttausende von Jahren, und so lange kann Wasser radioaktive Isotope aus den Tabletten lösen. Ist das aber erst einmal geschehen, sind die strahlenden Teilchen viel mobiler als in ihren Brennstofftabletten und können leichter in die Umwelt gelangen. Wasser kann sogar die Stahlröhren zerstören, wenn es von den Brennstofftabletten erhitzt wird und verdampft. Jetzt versucht sich ein US-Unternehmen an der Aufgabe, doch für den Rückbau der drei Reaktoren bedeutet das eine erneute Verzögerung, denn solange nicht der Brennstoff aus den Reaktoren entfernt werden kann, so lange können die Anlagen nicht abgebrochen werden.
Der Ukraine wird das gar nicht ungelegen kommen, denn so vermeidet sie die sozialen Probleme: Um die Reaktoren in ihrem Zustand zu halten, sind einige Tausend Arbeiter nötig. Kühlsysteme, Überwachungsanlagen, Werkstätten, all das muss in beinahe demselben Umfang wie zu Produktionszeiten laufen. Sobald aber der Rückbau beginnt, schrumpft der Arbeitskräftebedarf auf wenige Hundert. Für die Region an der Grenze zu Weißrussland wäre das eine Katastrophe, denn auch 23 Jahre nach der Unglück und neun Jahre nach der Stilllegung des letzten Reaktorblocks ist das ehemalige Kraftwerk der einzige große Betrieb.